Zum Gedenken an die Poltringer Opfer des Nationalsozialismus
1933 – 1945

 

Entstehung und Gedanken zum Gedenkstein 

 

Als ich 2016 von der Ermordung meiner Tante Maria Wellhäuser, geb. am 07.12.1910 in Poltringen durch die Nationalsozialisten im Rahmen der sogenannten Euthanasie am 27.09.1940 erfahren habe, hatte ich ein großes Bedürfnis, etwas für meine Tante zu tun.

 

In einem Steinbildhauerkurs sah ich einen Stein, der mir geeignet schien, daraus einen Gedenkstein für meine Tante zu gestalten. Ich hatte das Gefühl, ich müsste etwas zu ihrem Schutz tun.

 

Als Erstes schlug ich eine Grotte - sinnbildlich als schützenden Raum - in den Stein. Das reichte mir nicht – denkend an den umfassenden Zugriff der Nationalsozialisten auf Menschen, deren Leben ihnen nichts wert war. So entstand um die Grotte herum eine mit Pfeilern verstärkte Befestigungsmauer. Auch dies half nicht aus der Vorstellung der Ohnmacht gegenüber dem diktatorischen Staat.

 

Die Ausweglosigkeit dieser Situation erforderte aus meiner Sicht etwas viel Größeres als das, was Menschen leisten können. Die Grotte habe ich daher nach oben und zur Seite geöffnet und die Pfeiler nach oben gezogen. So wurde alles verbunden mit dem großen Ganzen, das uns umgibt und in dem alle Möglichkeiten des Lebens enthalten sind, die nur Gott kennt und denen wir uns annähern können.

 

Um meiner Tante und natürlich auch allen anderen Poltringer Opfern des Nationalsozialismus wieder einen Platz in ihrer Heimatgemeinde zu geben und sie zu würdigen, erfolgte unter großer Anteilnahme Poltringer Bürger, meiner Familie und von Verwandten im Juni 2022 ein Gedenkgottesdienst durch Pfarrer Martin David in St. Klemenz in Poltringen, in dem auch der Gedenkstein gesegnet wurde.

 

Nach dem Gedenkgottesdienst wurde ich von einigen Poltringer Bürgern angesprochen und es wurde der Vorschlag geäußert, den Gedenkstein auf dem Friedhof oder auf einem anderen geeigneten Platz in Poltringen aufzustellen. Der Poltringer Ortsvorsteher Herr Hess unterstützte dieses Vorhaben und entschied, dass der Gedenkstein für alle Poltringer Opfer in der Friedhofshalle seinen Platz finden soll.

 

Ein geeigneter Sockel für den Gedenkstein wurde bei Steinmetz Kümmerle in Entringen gefunden. Der rötliche Stein mit den deutlich sichtbaren Gesteinsschichten weist sinnbildlich daraufhin, dass sich in der Geschichte Ereignisse und Dinge übereinander lagern, ohne sich dabei gegenseitig auszulöschen. Ein Bild, das hilfreich sein kann, da es darauf hinweist, dass es auch nach schlimmsten Ereignissen neue Erfahrungen gibt, die weiterhelfen können. Die rötliche Farbe symbolisiert für mich die alles umfassende Liebe, die hilft, Wunden zu heilen.

 

Klaus Wellhäuser

 

 

Heimat- und Wanderverein Ammerbuch e. V.

„Opfer der NS-Politik in Poltringen 1933-45“

 

Im Wege der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktionen wurden zwei Personen aus Poltringen im „Dritten Reich“ in Grafeneck vergast und verbrannt (Barth, Ludwig *19.10.1887, +09.05.1940 und Wellhäuser, Maria *07.12.1910, +27.09.1940).

 

Abtransport

Abtransport von Patienten der Anstalt Liebenau am 02.10.1940. Links prüfen der Arzt der Anstalt und seine Sekretärin (die Ordensschwester) anhand einer Liste die Identität der beiden vor ihnen stehenden Männer. Rechts bringt ein Angehöriger des Transportpersonals einen Stempelabdruck auf den Unterarm eines vor ihm stehenden Mannes (Foto des Anstaltspfarrers Alois Dangelmaier)
 
Zu diesen bisher zwei bekannten Euthanasieopfern aus Poltringen konnte die Gedenkstätte Grafeneck nach aktuellem Forschungsstand zu den insgesamt ca. 9.800 namentlich identifizierten Opfern folgendes mitteilen (deutschlandweit gab es im „Dritten Reich“ über 200.000 Krankenmorde an sog. „Ballastexistenzen“):

 

 

Barth, Ludwig:

Geboren am 19.10.1887. Poltringen war entweder der Geburtsort oder der letzte Wohnort oder sogar beides, Genaueres ist nicht bekannt. Herr Barth war in der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten. Er wurde am 09.05.1940 nach Grafeneck gebracht und am selben Tag ermordet.

 

Wellhäuser, Maria:

Geboren am 07.12.1910 in Poltringen. Frau Wellhäuser war seit dem 14.01.1939 in der Landesfürsorgeanstalt Reutlingen- Rappertshofen. Sie wurde am 27.09.1940 nach Grafeneck gebracht und am selben Tag ermordet.

 

Gemäß der „Unfruchtbarmachnungs“-Unterlagen im Poltringer Ortsarchiv wurden zudem aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14.07.1933 mindestens vier Personen in Poltringen, die an bestehenden oder vermuteten „Erbkrankheiten“ litten, unfruchtbar gemacht oder dies beantragt. Grund konnte sein: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher
Fallsucht (Epilepsie), erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwere erbliche körperlicher Missbildung und schwerer Alkoholismus.

 

Hierzu gibt es in dem Buch „Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen – Eine Heimatkunde“ des Ludwig-Uhland-Institutes eindrückliche Berichte, die
auch Poltringen betreffen (S. 296-297):
...In der Praxis verfuhren die zuständigen Amtsärzte sehr willkürlich. Oft, so belegen die Zwangssterilisierten, wurden sie nur oberflächlich
untersucht und waren dabei Schikanen ausgesetzt. Gegenwehr war zwecklos; in vielen Fällen reichte allein der Verdacht einer „Erbkrankheit“ für den Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes aus. Die Tochter von Frau K. aus Poltringen wurde sterilisiert, weil sie ein „...schlechtes Augenlicht hatte und das mit den Augen eben eine Erbkrankheit sei, obwohl in der ganzen Verwandtschaft niemand ist, der irgendwie etwas mit den Augen hatte.“

 

Die Untersuchung beim Gesundheitsamt sei damals sehr schnell vonstatten gegangen. „Meine S. wurde nur gewogen, gemessen und sollte nach Buchstaben lesen, konnte dies jedoch nicht, weil sie ganz verheulte Augen hatte. Der Arzt habe währenddessen zu Frau K. gesagt, es sei ja furchtbar, wenn man solche Kinder hat.“ Die Diagnose einer Erbkrankheit lieferte in vielen Fällen auch die Begründung gegen „Arbeitsscheue“ und „Gemeinschaftsuntüchtige“ vorzugehen.

 

Insgesamt bis zu 400.000 Männer und Frauen wurden im „Dritten Reich“ zwangssterilisiert, wobei dabei über 6.000 Menschen zu Tode kamen. Teile dieses Gesetzes galten übrigens bis 1974 fort. Erst 1998 wurden durch ein Bundesgesetz die bis dahin rechtskräftigen Beschlüsse der damaligen Erbgesundheitsgerichte aufgehoben.

 

Wer hierzu vertiefende Informationen beitragen möchte, kann sich gerne bei unserer AG melden (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.).

 

Für die AG „Poltringer Ortsgeschichte“, Boris Dieter

 

 

Euthanasieopfer Maria Wellhäuser

 

Maria Wellhäuser wurde am 7. Dezember 1910 als 7. von 11 Kindern der Eheleute und Landwirte Katharina und Josef Wellhäuser in Poltringen geboren. Die Familie lebte in der Hauptstraße 53 (heute Hauptstraße 2) in Poltringen. Von dem Vater wird berichtet, dass er auch Akziser (Steuereintreiber) war.

 

Zwei Kinder starben schon in den ersten Lebensmonaten. Ein Sohn fiel 1944 in Russland.

 

Wellhaeuser, Maria

Foto von 1933 (Universitätsnervenklinik Tübingen/Majewski)

Maria wurde von der Mutter als lebens­frohes Kind beschrieben. Die Schule habe sie gut bewältigt. Als ihre Lieblingsfächer gab sie selbst Religion und Handarbeiten an. Nach der Volksschule arbeitete sie von 1924 – 1927 im elterlichen Betrieb und besuchte eine weitere Schule. Danach war sie als Dienst­mädchen in Tübinger Familien bis Ende Januar 1933 tätig – zuletzt 4 ¼ Jahre bei einer Professoren­familie, bei der sie auch wohnte.

 

An Weihnachten 1932 erlebte sie einen gefühlsmäßigen Einbruch. Sie fühlte sich nieder­gedrückt und wollte kein Geschenk annehmen. In der Folge war ihre Arbeits­fähigkeit eingeschränkt. Sie wurde in die Universitäts­nervenklinik Tübingen eingewiesen und verlor ihre Arbeits­stelle. In der Klinik ging es ihr zunächst sehr schlecht. Im Laufe der Zeit übernahm sie dort immer mehr Aufgaben und wurde im Sommer 1933 in den elterlichen Haushalt entlassen und arbeitete wieder im elterlichen Betrieb.

 

Später berichtete sie über diese Zeit, dass hinter ihrem Rücken über sie geredet wurde, weil sie im Kranken­haus gewesen sei. Sie versuchte wiederholt, eine neue Anstellungen als Dienstmädchen zu finden, was ihr nur für kurze Zeit gelang. Schließlich wollte sie 1935 in einem Mädchen­heim untergebracht werden – ebenfalls ohne Erfolg. Das Heim stellte eine Anfrage an die Tübinger Nerven­klinik, die dem Heim mitteilte, dass Maria Wellhäuser an einer chronischen Geistes­störung leidet. Die Klinik gab auch eine Meldung an das Kreis­gesund­heits­amt ab, das einen Antrag auf Unfrucht­barmachung beim Erbgesund­heitsgericht stellte. Die Zwangs­sterilisation erfolgte im Januar 1936.

 

Im Sommer 1936 bat die Mutter um eine erneute Klinik­einweisung ihrer Tochter. Sie berichtete, dass sie wieder sehr umtriebig und widerspenstig sei. Sie laufe dauernd fort. Am 06.08. wurde sie in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen, nachdem sie von der Polizei in Herren­berg aufgegriffen worden war. Das Kreis­krankenhaus Herren­berg stellte eine „augenblickliche erregte Psychose, wahr­scheinlich auf dem Boden einer Schizophrenie“ fest.

 

Maria gewöhnte sich nur schwer an das Anstalts­leben und nahm erheblich ab. Ab Mitte 1937 wird berichtet, dass sie ruhig geworden ist und fleißig Näharbeiten erledigt. Bei ihr wird autistisches Verhalten festgestellt. Anfang 1939 wird sie aus Kosten­gründen in die Landes­fürsorge­anstalt Reutlingen-Rapperts­hofen verlegt. Von dort gibt es keine Berichte über sie. Ihre Akte ist nicht auffindbar.

 

Am 27.9.1940 wurde sie mit dem Vermerk „versetzt“ von der Landes­fürsorge­anstalt abgemeldet. Am selben Tag befindet sie sich mit 60 weiteren Patienten der Landes­fürsorge­anstalt auf der Transport­liste der sogenannten grauen Busse von Reutlingen nach Grafeneck. Im Rahmen der Euthanasie­aktion der National­sozialisten war sie als psychisch Kranke erfasst worden. Sie wurde mit den anderen Patienten auf Schloß Grafeneck vergast und verbrannt. Im Familien­register der Pfarrei Poltringen ist der Vermerk zu finden, dass sie 1940 verbrannt worden ist.

 

Die angegebenen Daten beruhen auf Dokumenten verschiedener Behörden, Institutionen und Kliniken und wurden von mir recherchiert.

 

Klaus Wellhäuser

 

 

Predigt im Gedenkgottesdienst am 11. Juni 2022 in Poltringen

 

Die Erinnerung und das Gedenken an Verstorbene sind ein wichtiger Bestandteil der christlichen Kultur, die an ein Leben nach dem Tod glaubt. Ein Ausdruck des Gedenkens für Verstorbene sind Gedenk­gottes­dienste. Der Gottes­dienst ist oft hilfreich für Hinter­bliebene, um ihre Trauer zu bewältigen und Verstorbene in Erinnerung zu behalten.

 

Heute ist kein Novembertag, an dem in der Regel wir alle den Verstorbenen in der Gemeinde gedenken, die im Kirchenjahr verstorben sind. Heute gedenken wir besonders Maria Well­häuser, die von den National­sozialisten 1939 in Grafeneck vergast wurde. Mit ihr wurden in Grafeneck auch 10654 Menschen mit Behinderung systematisch getötet. Der Tag des Gedenkens an die Opfer des National­sozialismus findet immer wieder in vielen Gemeinden statt.

 

Hunderte Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden zwischen 1939 und 1940 deportiert und getötet. Wir sollen uns bewusst erinnern an die Opfer des NS-„Euthanasie“-Programms, in das seinerzeit Ärzte und Pflege­mit­arbeiter eingebunden waren. Die Erinnerung ist ein Teil unserer Ver­ant­wort­ungs­über­nahme, dass sich ein solches Grauen nicht wiederholt. Darum sind wir zusammen­­gekommen und wir brauchen einander für den Frieden.

 

Ich muss Herrn Klaus Wellhäuser, den Neffe von Maria Wellhäuser, ganz herzlich danken für seine Mühe, die Geschichte seiner Tante zu recherchieren. Seine Liebe für sie ist bewun­derungswert. Seine Ausdauer um die umfangreiche Anamnese seiner Tante zu machen, ist erkennbar in seinem Ergebnis der Recherche. Warum sollte er diese Aufgabe machen? Nicht nur seine Liebe für die Tante, sondern auch seine moralische Pflicht, dass er sich an seine Tante erinnert. Diese Erinnerung ist nicht nur um die Trauer zu bewältigen, die uns aufschließt, heilt und frei macht, sondern auch dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehr stark zu verurteilen. Es ist einen Anlass deutlich zu sagen, dass die Bosheit keine Religion und keine Rasse hat.

 

Wir sind von Gott geschaffen, um nicht verletzt zu werden, sondern um geliebt, geheilt und vollendet zu werden. Versöhnung bedeutet aktiv, den Wunden von Tätern und Opfern durch Symbole und Rituale die Chance zu geben, zu heilen, damit beide Seiten ihre Menschlichkeit wiederfinden und miteinander teilen können.

 

Die Erinnerung darf nicht enden, sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Durch Gottes Geist halten wir der Erinnerung stand und finden Kraft, die Zukunft zu wenden. Amen. 

 

Pfarrvikar Martin David